Der Sprung in ein neues Leben

Wanderung am Gardasee

7. Tag, Italien: Ich bin gestern am Gardasee angekommen, in der La Casa nel Parco bei Prabione, oben auf 500 Metern in den Bergen. Das Laden der Zusatzbatterie während der Fahrt funktioniert, das Laden mit dem Solarpanel ebenfalls. Heute Vormittag online gearbeitet. Dann, 14 Uhr: Wanderung mit Manoel, dem Gastgeber und seinem Sohn. Ich weiß es noch nicht. Heute wage ich den Sprung in ein neues Leben.

Wir sind auf dem Weg nach Campione del Garda den Berg runter, eine Stunde Wanderung. Erst noch eine schmale Straße, dann Pattweg durch Wälder. Der Weg wird steinig, ich habe glatte Schuhe an. Deswegen muss ich in die Knie gehen, um über rutschige Steine und lose Brocken zu tänzeln.

Thomas, der Sohn von Manoel, verabschiedet sich. Der Weg ist ihm heute zu anstrengend. Vor 150 Jahren, als es unten in Campione noch eine Baumwollfabrik gab, gingen die Frauen aus Prabione diesen Weg vier Mal am Tag zur Arbeit, bei jedem Wetter, zu jeder Jahreszeit.

Der Weg an den Klippen entlang

Der Weg wird steiler, führt an Klippen entlang. Wir klettern fast. “Alles, was schön ist, ist verboten”, sagt Manoel und deutet auf ein Schild, welches vor Flutwellen vom Damm oberhalb der Schlucht warnt. Wir gehen am Schild vorbei und halten uns links an einem Seil fest, weil die Kante rechts steil abfällt.

Dann bleiben wir stehen. Der Wasserfall ist unglaublich. Über massive, glatt geschliffene Felsen fällt das Wasser in einen glasklaren Teich, der sich zur Rechten gemächlich in die Tiefe stürzt. Manoel geht weiter nach links. Wir lassen den Felsen hinter uns, klettern über Steine, Brocken, Felsen, stapfen durch eiskaltes Wasser, welches ruhig dahin plätschert. Noch ein Teich, kleine Becken, wieder Felsen. Es geht immer weiter. Wir klettern. Ich bewege mich wie ein Gecko, um mich mit meinen glatten Schuhen halten zu können. Das macht Spaß!

Der Sprung ins tiefe Wasser

Am Ende der Schlucht blicken wir hinauf … Ich frage mich, ob ein Mensch uns oben vom Rand der Klippen sehen könnte. Von dort aus gesehen dürften wir so klein wie Spielzeugfiguren sein. Ich bereite mich auf den Sprung in das Wasser vor. “Es ist tief genug”, sagt Manoel. “Spring!”

Ich springe über eine Schwelle, hinab in tiefblaues Wasser. Es ist eiskalt, brennt wie funkelndes Licht. Ich fürchte mich vor der Tiefe unter meinen strampelnden Füßen, weil ich zu Hause zu viele Gruselvideos gesehen habe. Um mich zu beruhigen, lege ich mich auf den Rücken, lasse mich treiben, blicke hinauf.

Von hier aus zeigt sich die ganze Schönheit des fallenden Wassers. An einer schwarz glänzenden Wand fällt es hinab in die Tiefe. Es hat Ewigkeiten lang den Fels zu einem Halbrund abgetragen. Der Himmel leuchtet wie durch einen Tunnel, in dessen Höhe Bäume den Rand mit ihren Kronen bekränzen. Ich schwimme durch einen Canyon, fühle mich am Leben. Jetzt weiß ich: Ich fahre, hüpfe, krabble, wenn es sein muss, gehe ich auf Händen zum Kailash.

Wunder geschehen

Ich könnte von diesem Tag so viel mehr erzählen: von Gernot, dem Architekten aus Innsbruck, den wir später unten in Campione del Garda treffen, von den Marienstatuen am Wegesrand, vom versteckten Zeltplatz oberhalb der Klippen.

Den Tag über scheint die Sonne, blaues Firmament, weiße Wolken. Am Abend öffnet sich der Himmel: Blitze, Hagel, Wassermassen fallen vom Himmel, während die Gäste der Casa nel Parco vor einem Herdfeuer gemeinsam Abendbrot essen. Habe ich von dem Staudamm erzählt? Den Tunneln? Den blickenden Glühwürmchen, die hier nachts zwischen den Bäumen herum schwirren?

Wunder geschehen. Möge Gott mich auf keinen Fall zu dem spröden Alteisen werfen, welches Funken sprühend unter seinem Hammer brach und nun nutzlos vor seiner Türe liegt. Möge er mich solange schmieden, bis ich bin, wofür er mich gedacht hat.

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