Die Welt als Traum
Die Kupplung des Wagens ist kaputt
143. Tag, Georgien: In zwei Wochen werde ich mit Joseph Turner über die Welt als Traum diskutieren. Ich weiß es noch nicht, doch das Gespräch wirft seine Schatten voraus. Ich denke darüber nach, während ich mein Auto repariere. Die Kupplung macht Probleme. Der Schalthebel hat Spiel. Er lässt sich ohne Widerstand nach vorne und hinten bewegen. War das schon immer so oder ist das neu? Ich bin mir nicht sicher. Wie dem auch sei. Ich liege unter dem aufgebocktem Wagen und sehe mir die Schaltung von unten an.
Irgendwo muss ein Gummilager ausgeschlagen sein. Sicher nichts dramatisches. Doch ich will auf Nummer sicher gehen. Ich hatte schon in der Türkei Probleme mit der Elektrik. Ohne Auto bin ich aufgeschmissen und bald will ich weiter in das Landesinnere von Georgien vordringen. Von hier unten sieht die Kupplung auch nicht viel besser aus als von oben. Aus dem Gewirr an Gestängen, Kabeln und Leitungen werde ich nicht schlau. Normalerweise müsste die senkrechte Stange des Schalthebels zu sehen sein. Ich taste mich mit meiner rechten Hand vor, ob ich sie erfühlen kann.
Plötzlich knackt es und das Gestänge zwischen meinem Daumen und Zeigefinger hat seinen Widerstand verloren. Es läuft mir eiskalt den Rücken hinunter. Habe ich etwas beschädigt? Ich ziehe meine Hand mit dem Irgendwas zwischen meinen Fingern aus den Eingeweiden des Wagens. Der Schalthebel! Ich habe den Schalthebel heraus gezogen! Scheiße! Verdammt! Die Kupplung ist komplett im Arsch!
Panik kriecht meine Wirbelsäule hoch
Mir wird ganz anders. Panik kriecht meine Wirbelsäule hoch. Ich habe kaum Ersparnisse, kann mir eine teure Reparatur nicht leisten und die Kupplung selbst wieder in Ordnung bringen, so weit reichen meine Fähigkeiten dann noch nicht.
Ich ziehe mich fluchend unter dem Wagen hervor und blicke ungläubig den Schalthebel samt Gestänge in meiner Hand an. Irgendwas stimmt hier nicht. Irgendwas passt nicht. Das kann doch nicht sein! Der Schaltknüppel des Wagens in meiner Hand? Ungläubig drehe ich ihn in einen Händen. Wieder kriecht ein eiskaltes Gefühl von Angst meinen Rücken hoch. Doch, das ist der Schaltknüppel. Ich habe ihn deutlich vor mir.
Ich wende meinen Blick ab und blicke durch die Windschutzscheibe auf die Mittelkonsole. Da, wo vorhin noch der Schalthebel war, gähnt jetzt ein schwarzes Loch. Scheiße. Hoffnungslos. Das kriege ich nicht wieder hin. Verzweifelt sacke ich zusammen und lehne mich an die Fahrertür.
Ein Albtraum: Totalschaden
Dann fällt mir im Augenwinkel etwas komisches auf. Wieso ist der Radkasten hinten leer? Da müsste doch … Fuck! Ich springe auf die Beine und bin mit einem Satz am hinteren Radkasten, in dem eigentlich ein Rad sein sollte. Wo ist die Felge samt Reifen hin? Hab ich die ausgebaut? Reifenwechsel? Und wieso liegt die Radnabe sauber von der Achse abgetrennt auf dem matschigen Boden?
Jetzt ist es aus! Ich komme hier nie wieder weg! Meine Beine geben nach. Das ist ein Albtraum. Ich bin in den Bergen Georgiens gestrandet. Zurück kann ich nicht. Meine Beziehung in Deutschland ist zu Ende gegangen. Keine Wohnung, kein Job, aus dem Traum ist ein Albtraum geworden.
Das ist nicht real! Das darf nicht real sein! Wieso ist die Radnabe sauber abgetrennt? Ich sehe mir die Trennstelle genauer an. Der Stahl ist wie mit einem Messer geschnitten. Nein. Unmöglich! Ich bin in einem Traum gefangen. Ich muss aufwachen! Weg hier! Irgendwohin in eine andere Realität. Egal wo, Hauptsache weg hier! Plötzlich fällt meine Welt zusammen und in meinem Inneren höre ich ein lautes „Nein!“.
Flucht in eine andere Realität
Dann fängt mein Körper an zu flattern und ich habe das Gefühl, mich aus meiner Haut wie aus einem nassen Taucheranzug heraus zu schälen. Ich – will – hier – raus! Der Bruchteil einer Sekunde fühlt sich an wie eine Ewigkeit. Mein Wille zieht mich raus aus diesem widerspenstigen Etwwas, das ich Körper nenne. Wie ferngesteuert suche ich nach einem Ausgang, irgendwo im Gefüge dieser Umgebung. Ich will raus aus dieser Realität!
Das Ganze ist wie ein schlechter Film. Dann tut sich auf der Leinwand dieses Traumes ein Riss auf. Er weitet sich zu einem Spalt in Raum und Zeit, gerade groß genug für mein Bewusstsein, das sich da hindurch zwängt. Es dreht und windet sich. „So muss sich ein Baby bei der Geburt fühlen“, denke ich und schlage mit einem Klatschen auf einer kalten Fläche auf.
Ich habe geträumt! Gott sei Dank, ich habe nur geträumt! Ich bin aufgewacht und realisiere, dass ich auf dem Fußboden vor meinem Bett liege. Ich kann Bretter unter meinen Handflächen spüren. Hinter mir zuckt der Riss in der Leinwand, der sich wieder schließt. Wo bin ich hier? Ist das auch nur ein Traum? Hoffentlich hat dieser Film ein besseres Drehbuch.
Dann erinnere ich mich: Ich bin in Tskaltubo. Vor fünf Tagen bin ich hier angekommen. Gestern Abend habe ich mich mit dem Australier Joseph Turner über die Welt als Traum unterhalten. Das Auto steht trocken in der Garage und ist völlig in Ordnung.