Die Welt als Ort der Erfahrung
Eine völlig neue Erfahrung
57. Tag, Bulgarien: Eines ist mir klar. Diese Reise ist ein Risiko. Ich lasse alte Ufer hinter mir und mache völlig neue Erfahrungen, welche die Grenzen meiner bisherigen Überzeugungen sprengen. Zum Beispiel der Tag heute: „Welches ist der schönste Ort des Dorfes?“, frage ich Anil. Ich habe den Zehnjährigen, seinen Bruder und seinen Großvater vor einer halben Stunde auf dem Dorfplatz von Popovets kennengelernt, in der Provinz Haskovo im Süden Bulgariens. Wir kamen ins Gespräch, mit Händen und Füßen. Anil spricht etwas Englisch.
Der Junge führt mich raus aus dem Dorf auf eine Anhöhe, zu einer in Stein gefassten Quelle. Eine Kuh grast auf einer Böschung. Seine Eltern haben auf dem Hügel einen Garten angelegt. Heute werde ich seine Familie kennenlernen. Anil führt mich durch das Dorf. Alte Männer und Frauen winken uns zu. In dem einzigen Geschäft an der Hauptstraße kauft er mir eine Limonade. Er lehnt mein Geld ab, überreicht mir feierlich die Flasche mit dem kühlen Getränk.
Mein Weltbild steht Kopf
Dieser Junge und seine Familie haben mein Weltbild auf den Kopf gestellt. Ich bin bis heute davon ausgegangen, dass man immer eine Gegenleistung für etwas erbringen muss. Anil gibt, weil er geben möchte, so wie seine Familie. Bei ihm zu Hause bekomme ich Kaffee. Seine Mutter reicht mir Bonbons und Schokolade, während seine Großmutter in einem Plastikbottich auf dem Boden Geschirr wäscht.
Für westliche Maßstäbe sind diese Familie und das Dorf arm. Zu den wenigen verputzten Häusern, die ich gesehen habe, gehören das Gasthaus am Marktplatz und die Schule, die schon seit langem verfällt. Doch für mich sind diese Menschen viel reicher als wir es mit unseren wärmegedämmten Fassaden, Riesenfernsehern und Urlauben am Mittelmeer sind.
Wir vergessen die Zeit
Wir haben elektrisches Licht in unseren Gärten. Sie haben die Sterne und den Mond. Bei uns erhitzt die Mikrowelle das Essen und jeder sitzt alleine am Tisch. Bei ihnen kocht die Mama oder die Oma und sie essen gemeinsam. Wir schützen uns mit Alarmanlagen. Sie leben mit offenen Türen, geborgen in der schützenden Gemeinschaft ihrer Nachbarn. Wir sind mit Telefon, Computer und Fernsehen verbunden, sie mit der Sonne, den Feldern, den Tieren und Familien.
Am Nachmittag spiele ich mit Anil, seinem Bruder und seinem Großvater auf dem Hügel Fußball. Wir vergessen die Zeit. Die Welt besteht nur noch aus diesem Tag, den wir miteinander teilen. Wir leben, lachen, laufen hinter dem Ball her. Im Schatten von Bäumen ruhen wir uns aus und schnipsen Blüten gepflückter Gräser in das Sonnenlicht. Heute habe ich gelernt, das die Welt ein Ort der Erfahrung ist und Grenzen und Beschränkungen nur in unseren Köpfen existieren.
(Das Westfalen-Blatt hat über diese Geschichte berichtet.)