Die Leichtigkeit eines einfachen Lebens
Vier Generationen unter einem Dach
124. Tag, Georgien: Leben und Leichtigkeit auf einem Bauernhof, mitten in den Bergen des Machakhela National Parks, in der Nähe des Schwarzen Meeres. Die nächste größere Stadt Batumi ist 30 Kilometer entfernt, mit dem Auto eine Stunde Fahrt. Ich wohne in dem Gasthaus Tsiskari, bei der Familie Khinkiladze.
Dural, der Hausherr, ist Park Ranger. Beim Abendessen ist es Ehrensache mit einem Glas Wein auf gute Gesundheit und ein langes Leben anzustoßen. Pati, seine Frau, macht köstliches Essen. Auf dem Tisch stehen Teller und Schalen mit verschiedenen Gerichten. Dazu gibt es Brot und Beilagen. Jeder isst, was ihm schmeckt. Die meisten Zutaten sind aus dem hauseigenem Garten. Bio pur.
Unter diesem Dach wohnen vier Generationen: Enkel, Eltern, Großeltern und die Urgroßmutter. Im Ofen bollert ein Feuer. Nachts heulen draußen im Tal die Schakale. Morgens scheint die Sonne von einem klaren blauen Himmel herab und wärmt die Erde mit ihrem Licht. Bienen summen. Kühe muhen. Ja, die Familie arbeitet hart auf den Feldern und in den Wäldern. Doch tun wir das in unseren Büros und Supermärkten nicht auch? Es gibt einen wesentlichen Unterschied beider Lebensarten: Hier in den Bergen ist niemand, der Dir rein redet, wie Du Dein Haus zu bauen hast oder welches Auto Du fahren darfst. Du kannst einfach der sein, der Du bist.
Inmitten dieser Leichtigkeit beginne meine eigenen Großeltern zu verstehen. Als Jugendlicher habe ich ihnen insgeheim ihre lebenslange Traurigkeit vorgeworfen. Das Leben schien für sie eine endlose Abfolge von Schwermut und Mangel zu sein. Weshalb konnten sie nicht die positiven Dinge des Lebens sehen?
Warum immer so negativ?
Meine Großmutter lebte jedes Mal auf, wenn sie von dem Leben auf ihrem Bauernhof in Pommern erzählte, bevor das Drama des Zweiten Weltkrieges begann. Es muss sehr schön gewesen sein, ein Leben in Leichtigkeit, ähnlich wie hier in den Bergen Georgiens. Wenn mein Großvater von den vergangenen Tagen erzählte, dann meistens von seinem Dienst als Soldat einer mobilen Artillerie. Bitterkeit lag in seiner Stimme. Er ist durch die Hölle gegangen, wurde bei einer Explosion schwer verletzt. Bis zum Ende seines Lebens im Jahr 2003 steckte der Splitter einer Granate in seinem Herzen.
Am Ende des Krieges flüchteten meine Großeltern in den Westen. Ihre Heimat haben sie für immer verloren: die gemeinsamen Abendessen mit der ganzen Familie, das Bollern im Ofen, das Summen der Bienen im Sommer.
Während ich mir ein weiteres Brot nehme, es in eine Bohnensuppe tunke und den Geschmack dieses einfachen Lebens koste, fühle ich den Schmerz meiner Großeltern, die all das zurück gelassen haben. Hier ist niemand, der dir sagt, wie du dieses oder jenes zu tun oder zu lassen hast. Du bist frei, ein Teil der Familie, verbunden mit den Tieren, der Natur und den Schakalen, die nachts nach einem unbekanntem Sehnen rufen.
Oma, Opa, bitte vergebt mir, dass ich so hart in meinem Urteil über Eure Traurigkeit war, die ich bislang nicht verstehen konnte.