In der Höhle des Prometheus
Prometheus ruft
174. Tag, Georgien: Ich muss raus. Manchmal wird es mir viel und ich verliere den Überblick über das Lernen, Arbeit und Zoom-Meetings. Also ab ins Auto. Google Maps sagt, in sechs Kilometern liegt der Eingang der Prometheus-Höhle. Dem Namen nach ist das die Höhle des Gottes, der den Menschen das Feuer brauchte. Hört sich gut an!
„In der Höhle befinden sich 22 Hallen. Sechs davon sind für Touristen geöffnet. Wir wandern heute 1,4 Kilometer durch die Unterwelt“, sagt die Führerin meiner Gruppe. Klingt nach einer meditativen Wanderung. Dabei kann ich abschalten.
In Deutschland habe ich es geliebt, mich im Wiehengebirge und an anderen Orten durch kleine Schlupflöcher in alte Höhlen und verlassene Bergwerke zu zwängen. Dort unten ist nichts, kein Handyempfang, kein Licht, kein Terminplaner. Du bist allein mit Dir selbst und dem Lichtkegel Deiner Taschenlampe.
Ein Spaziergang in die Tiefe
Das Besichtigen der Prometheus-Höhle ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Spaziergang. Der Zugang ist ein breit aufragender Schlund, in dem nach und nach ein japanisches Pärchen, mehrere Georgier, Türken und ein Deutscher verschwinden.
Wir wissen so wenig über die Welt, die unter unseren Füßen liegt.1(Robert MacFarlane: Im Unterland (Kindle), 2019, S.16) Wenn wir in einer Nacht ohne Wolken nach oben schauen, sehen wir das Licht von Millionen von Sternen. Sternschnuppen ziehen über das Firmament. Auf dem Mond erkennen wir Krater. Wenden wir unseren Blick nach unten, sehen wir kaum mehr als Gras, Asphalt und Erde.
Selten fühle ich mich lebendiger als in der Unterwelt, insbesondere dann, wenn ich dort unten auf mich allein gestellt bin. Das ist wie mit der eigenen Psyche. Was sich im Untergrund befindet, entzieht sich dem alltäglichen Blick. Wer von dort unten etwas ans Licht befördern will, muss anstrengende Arbeit auf sich nehmen.
Die Abgründe der Seele
Weil sie in der Regel so schwer zugänglich ist, steht die Unterwelt symbolisch für alles, was nicht offen gesagt oder gesehen werden darf: Täuschung, Trauer, Verlust – die Abgründe der Seele. Die Schattenseiten des Geistes können – zu tief verdrängt – mit körperlichem Schmerz wieder an die Oberfläche steigen. Angst ist die normale Reaktion.
Doch genau dieses Unterland ist elementar für die materiellen Strukturen unserer Existenz.2(vgl. Robert MacFarlane: Im Unterland (Kindle), 2019, S.17) Hier unten liegen Erinnerungen verborgen, vergessene Mythen, Metaphern unseres Lebens.
Die Verwaltung der Schutzgebiete der Höhlen von Imereti hat aus der ewigen Dunkelheit der Prometheus-Höhle ein Wunderland aus Formen und Farben gemacht. Scheinwerfer entlang des 1,4 Kilometer langen Weges werfen bizarre Schatten auf die Millionen Jahre alten Stalagmiten und Stalaktiten.
Ein Anblick zeitloser Schönheit
„Wunderschön, nicht wahr?“, fragt mich eine Teilnehmerin der Tour. Ich kenne sie nicht. Sie will ihrem Staunen einfach Ausdruck verleihen. Wir sind etwa 200 Meter in die Tiefe vorgedrungen. Vor uns öffnet sich eine riesige Halle, in dessen Ferne das Licht starker Scheinwerfer helle Punkte in die Finsternis tupft. In der Tat. Wer die Angst überwindet und sich in die Unterwelt begibt, dem eröffnet sich ein Anblick zeitloser Schönheit.
Dieser Artikel ist inspiriert von dem Buch:
Im Unterland: Eine Entdeckungsreise in die Welt unter der Erde
Die kursiv geschriebenen Sätze sind Zitate des Autors Robert MacFarlane.
[This video uses this sounds from freesound: Ddmyzik Loops by SergeQuadrado licensed under CCBYNC 4.0.]